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Dritter Teil: Ketamin in der Schmerztherapie – Ein Bruch mit dem Schmerzgedächtnis

Dritter Teil: Ketamin in der Schmerztherapie – Ein Bruch mit dem Schmerzgedächtnis

1. Einleitung

Neben der Verwendung in der Depressions- und Traumatherapie hat sich Ketamin auch als wertvolles Instrument in der Schmerzmedizin etabliert – insbesondere dort, wo herkömmliche Therapien versagen. Die schmerzlösende Wirkung ist nicht nur pharmakologisch erstaunlich, sondern auch tiefgreifend in ihrer langfristigen Reorganisationskraft, etwa durch die Löschung pathologischer Schmerzgedächtnismuster oder die Auflösung idiopathischer Schmerzphänomene, bei denen keine erkennbare Ursache vorliegt. In diesem Abschnitt werden zentrale Mechanismen, Anwendungsfelder und klinische Perspektiven unter Einbezug relevanter Fachliteratur diskutiert.

2. Ketamin und das Schmerzgedächtnis

Chronischer Schmerz ist oft keine direkte Folge eines aktuellen Gewebeschadens, sondern ein Produkt der Zentralisierung von Schmerz: das sogenannte Schmerzgedächtnis. Wiederholte Schmerzreize verändern die synaptische Verarbeitung im Rückenmark und Gehirn – insbesondere durch eine gesteigerte Aktivität am NMDA-Rezeptor (vgl. Woolf & Thompson, 1991), was zur sogenannten „Wind-Up“-Sensibilisierung führt.

Ketamin als NMDA-Antagonist unterbricht diese Spirale:

„Ketamin ist der einzige klinisch verfügbare Wirkstoff, der das Schmerzgedächtnis löschen kann, statt es nur zu dämpfen.“
— Prof. Dr. med. Winfried Meißner, Universitätsklinikum Jena

In niedriger bis mittlerer Dosierung kann Ketamin somit verhindern, dass akuter Schmerz chronisch wird – oder bestehende chronische Schmerzen aus ihrer starren Reiz-Reaktions-Kette lösen.

3. Behandlung idiopathischer und therapieresistenter Schmerzen

Idiopathische Schmerzen – also Schmerzen ohne nachweisbare somatische Ursache – stellen für die moderne Medizin eine Herausforderung dar. Betroffene leiden häufig an Fibromyalgie, neuropathischen Schmerzen, Komplexem regionalem Schmerzsyndrom (CRPS) oder somatoformen Schmerzstörungen. In all diesen Fällen ist Ketamin zunehmend ein therapeutischer Hoffnungsträger.

CRPS, eines der schwerwiegendsten Schmerzsyndrome, spricht in vielen Fällen beeindruckend auf Ketamin an. Schwartzman et al. (2009) zeigten in einer Studie mit IV-Ketamin-Infusionen signifikante Schmerzreduktion über mehrere Monate hinweg, obwohl keine Dauermedikation erfolgte:

„Die Reaktion war in ihrer Nachhaltigkeit vergleichbar mit einer chirurgischen Denervierung – nur ohne deren Risiken.“
— Dr. Robert J. Schwartzman, Thomas Jefferson University

Auch bei Fibromyalgie deuten Studien (z. B. Noppers et al., 2011) darauf hin, dass bereits eine einmalige Infusion eine mehrtägige bis mehrwöchige Linderung erzeugen kann – vermutlich durch zentrale Neujustierung der Schmerzverarbeitung.

4. Langfristige Wirkung: Warum braucht es keine Dauermedikation?

Die anhaltende Wirkung von Ketamin bei chronischen Schmerzen – teils über Wochen bis Monate nach nur einer Sitzung – ist pharmakologisch ungewöhnlich. Die Erklärung liegt auch hier wieder in der neuronalen Plastizität:

  • Blockade maladaptiver Netzwerke (NMDA-abhängig),
  • Aktivierung antinozizeptiver Bahnen (z. B. über das opioide System),
  • Veränderung des kortikalen Schmerznetzwerks, insbesondere der Insula und des anterioren Cingulums (vgl. Niesters et al., 2013),
  • sowie eine Reduktion der emotionalen Bewertung des Schmerzes, was besonders bei somatoformen Schmerzen bedeutsam ist.

Ketamin erlaubt dem Gehirn sozusagen, „neu zu lernen“, was Schmerz bedeutet – oder eben nicht mehr bedeutet.

5. Ganzheitliche Aspekte: Schmerzlinderung als psychisch-spirituelle Öffnung

Viele Patienten berichten nach Ketamin-Sitzungen von einem Phänomen, das über Schmerzfreiheit hinausgeht – etwa von einem Gefühl der inneren Weite, von Dankbarkeit, von einem Loslassen tiefer Schichten. Diese Rückmeldungen legen nahe, dass chronischer Schmerz nicht nur ein sensorisches, sondern auch ein existenzielles Phänomen ist.

„Ketamin wirkt nicht nur analgetisch – es verändert das Bewusstsein, Schmerz anders zu erfahren. Es macht die Tür auf für Heilung jenseits der reinen Pharmakologie.“
— Dr. Karl Jansen, Ketamine: Dreams and Realities (2000)

Gerade in der multimodalen Schmerztherapie eröffnet dies neue Perspektiven: Ketamin kann als „initialer Reset“ genutzt werden, auf den psychotherapeutische, physiotherapeutische und achtsamkeitsbasierte Interventionen nachhaltig aufbauen können.

6. Zusammenfassung und Ausblick

Ketamin bietet in der Schmerztherapie ein einzigartiges Potenzial – nicht nur zur kurzfristigen Analgesie, sondern zur Umstrukturierung der Schmerzverarbeitung auf neuronaler und psychischer Ebene. Es wirkt dort, wo klassische Analgetika versagen: im Netzwerk des Schmerzgedächtnisses, in der Bedeutungsebene des Schmerzes und in der Tiefe der emotionalen Reaktionsmuster.

Die klinische Zukunft liegt in integrativen Behandlungsmodellen, in denen Ketamin nicht als Ersatz für klassische Medikamente dient, sondern als Toröffner für tiefere Regeneration – sowohl im neuronalen als auch im seelischen Sinn.

Wichtige Quellen und Studien

  • Woolf, C. J., & Thompson, S. W. (1991). The induction and maintenance of central sensitization is dependent on NMDA receptor activation. Nature, 352(6331), 557–561.
  • Schwartzman, R. J., et al. (2009). Outpatient intravenous ketamine for the treatment of complex regional pain syndrome: A double-blind placebo controlled study. Pain Physician, 12(3), 615–627.
  • Niesters, M., et al. (2013). Ketamine for chronic pain: risks and benefits. British Journal of Clinical Pharmacology, 77(2), 357–367.
  • Noppers, I. M., et al. (2011). Absence of long-term analgesic effect from a short-term S-ketamine infusion on fibromyalgia pain: a randomized, prospective, double blind, active placebo-controlled trial. European Journal of Pain, 15(9), 942–949.
  • Jansen, K. (2000). Ketamine: Dreams and Realities. MAPS.

"Ketamin ist der einzige klinisch verfügbare Wirkstoff, der das Schmerzgedächtnis löschen kann." — Prof. Winfried Meissner, Universitätsklinikum Jena

 

Exkurs: Migränebehandlung mit Ketamin

Migräne ist ein komplexes neurologisches Syndrom mit neurovaskulärer Komponente. Bei therapierefraktären Verläufen zeigen sich zunehmend Erfolge mit Ketamin.

Afridi et al. (2013) untersuchten Ketamin bei chronischer Migräne und fanden signifikante Reduktionen von Schmerzintensität und Häufigkeit. Der Effekt basiert vermutlich auf:

  • Hemmung zentraler Sensibilisierung,
  • Dämpfung trigeminaler Nervenreizweiterleitung,
  • Herabsetzung emotionaler Schmerzbewertung,
  • Unterbrechung chronischer Attackenketten.

Besonders bei "Status migrainosus" oder Medikamentenübergebrauch kann Ketamin ein Reset-Effekt erzeugen, auf den neue Lebensgewohnheiten und prophylaktische Maßnahmen aufbauen können.

Fazit: Ketamin als multidimensionales Heilmittel

Ketamin vereint in einzigartiger Weise neurobiologische, psychische und spirituelle Wirkdynamiken. Seine Fähigkeit, rigide Netzwerke zu entkoppeln und neue Erlebensqualitäten zugänglich zu machen, macht es zu einem Schlüsselinstrument moderner integrativer Medizin. Ob bei chronischem Schmerz, depressiver Erstarrung oder transpersonaler Transformation – Ketamin wirkt dort, wo konventionelle Mittel an Grenzen stoßen.


Author

Achim Schwenkel

Praxisgründer, Psychedelic Coach, Publizist