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Zweiter Teil: Die Wirkung von Ketamin auf das opioide System – Ergänzung zur Keyhole-Erfahrung

Zweiter Teil: Die Wirkung von Ketamin auf das opioide System – Ergänzung zur Keyhole-Erfahrung

1. Einführung

Während Ketamin in erster Linie als NMDA-Antagonist bekannt ist, zeigen neuere Forschungen, dass es auch mit dem endogenen opioiden System interagiert. Dieses System spielt eine zentrale Rolle bei der Schmerzwahrnehmung, Affektregulation und dem Erleben von Verbundenheit und Trost. Seine Beteiligung am therapeutischen Nutzen von Ketamin wirft ein zusätzliches Licht auf die emotional-spirituelle Tiefe der sogenannten Keyhole-Erfahrungen – und erlaubt es, neurobiologische, psychologische und transpersonale Dimensionen der Heilung in einem zusammenhängenden Modell zu betrachten.

2. Das opioide System – Überblick

Das opioide System besteht aus verschiedenen Rezeptoren (v.a. μ, δ und κ) und den dazugehörigen endogenen Liganden wie Endorphinen, Enkephalinen und Dynorphinen. Es ist verantwortlich für:

  • die Hemmung von Schmerz (körperlich wie emotional),
  • das Gefühl von Wohlbefinden, Geborgenheit und innerem Frieden,
  • die Regulation von Stressantworten und Affektverarbeitung,
  • und den Zugang zu sozialer Bindung und Selbstmitgefühl.

3. Ketamin und die Aktivierung des opioiden Systems

Studien deuten darauf hin, dass Ketamin zumindest indirekt das opioide System aktiviert, insbesondere den μ-Opioidrezeptor. Einige klinische Wirkungen – vor allem die rasche Linderung von Depression – scheinen teilweise durch diese Aktivierung vermittelt zu werden. In einer Studie (Williams et al., 2018) konnte gezeigt werden, dass der Einsatz eines μ-Opioid-Antagonisten (Naltrexon) die antidepressive Wirkung von Ketamin stark abschwächte – ein deutlicher Hinweis auf die Beteiligung des Systems.

4. Verbindung zur Keyhole-Erfahrung

Die Wirkung auf das opioide System liefert eine körperlich-emotionale Grundlage für viele Aspekte der Keyhole-Erfahrung:

  • Gefühl tiefer Geborgenheit: Patienten berichten während und nach der Ketamin-Erfahrung häufig von einem Gefühl umfassender Sicherheit, als würden sie „gehalten“ oder „getragen“ werden – analog zum Erleben frühkindlicher Bindung. Dies könnte neurobiologisch durch eine Aktivierung des μ-Rezeptorsystems erklärt werden.
  • Linderung existenzieller Einsamkeit: Depression wird zunehmend als „Krankheit der Trennung“ verstanden – nicht nur von anderen, sondern auch vom Selbst. Die opioide Aktivierung könnte hier eine fundamentale Re-Integration ermöglichen, die psychologisch als spirituelle oder mystische Verbundenheit erlebt wird.
  • Transformation von Schmerz: Sowohl körperlicher als auch seelischer Schmerz kann durch die opioide Wirkung gelindert werden. Der Schlüssel dabei ist nicht nur die Ausschaltung des Schmerzes, sondern das Erleben von Trost – ein essenzieller Unterschied für traumatisierte Menschen.

5. Neuropsychologische Synthese: NMDA, Opioid, Plastizität

In der Synthese ergibt sich ein dreifacher Wirkmechanismus:

  1. NMDA-Antagonismus entkoppelt starre Netzwerke und öffnet das Fenster für neue Erfahrungen (Dissoziation vom alten Ich).
  2. Opioide Aktivierung erzeugt Sicherheit, Selbstannahme und emotionale Offenheit (Geborgenheit im neuen Erfahrungsraum).
  3. Neuroplastizität (via AMPA-BDNF-Kaskade) verankert die neuen Perspektiven langfristig im neuronalen Gefüge (Integration ins Selbstbild).

Diese Kombination ist womöglich einzigartig im Bereich der Psychopharmakologie – und erklärt, warum Ketamin nicht nur Symptome lindert, sondern häufig auch eine existenzielle Rekalibrierung ermöglicht.

6. Bedeutung für die therapeutische Praxis

Wenn das opioide System maßgeblich am therapeutischen Effekt beteiligt ist, ergeben sich wichtige Implikationen:

  • Rahmung ist entscheidend: Das Gefühl emotionaler Sicherheit kann durch therapeutische Präsenz, Raumgestaltung und empathische Begleitung vertieft werden – eine Verstärkung des endogenen Opioidpotentials.
  • Integration braucht Beziehung: Die Rückverbindung mit sich selbst ist oft eingebettet in das Gefühl, gesehen und begleitet zu werden. Ketamin öffnet Türen – doch es ist die Beziehung, die durch sie hindurchführt.
  • Spirituelle Erfahrungen erhalten eine somatische Grundlage: Die spirituelle Dimension der Keyhole-Erfahrung erscheint nicht mehr als bloßer „Zufall“ der Substanzwirkung, sondern als Ausdruck einer neurobiologischen Rückverbindung mit einem tiefen inneren Frieden.

7. Fazit

Die Beteiligung des opioiden Systems an der Wirkung von Ketamin vertieft das Verständnis der Keyhole-Erfahrungen erheblich. Es zeigt sich, dass Heilung hier nicht nur durch kognitive Einsichten oder neuronale Entkopplung geschieht, sondern auch durch die Wiedererweckung eines lange verschütteten Gefühls innerer Geborgenheit. In dieser Perspektive ist Ketamin nicht einfach ein dissoziativer Wirkstoff, sondern ein Brückenbauer – zwischen dem schmerzhaften Ich und einem transzendierenden Selbst, das gleichzeitig neurobiologisch fundiert und spirituell erfahrbar ist.


Author

Achim Schwenkel

Praxisgründer, Psychedelic Coach, Publizist