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Was ist für die Entwicklung eines Kindes schädlicher – das, was ihm widerfährt, oder das, was ihm fehlt? Kann Ketamin helfen?

Teil 1: Was ist für die Entwicklung eines Kindes schädlicher – das, was ihm widerfährt, oder das, was ihm fehlt?

Ein trauma- und bindungstheoretischer Essay mit Quellenangaben

1. Einführung

Traumata sind nicht nur plötzliche Schocks, sondern oft stille, schleichende Prozesse. Die Entwicklungspsychologie und moderne Psychotraumatologie zeigen deutlich, dass auch das Nicht-Erlebte, das Nicht-Gefühlte und das Nicht-Gesehene tiefgreifende Spuren im Nervensystem hinterlassen. Die klinische Frage, was folgenschwerer ist – Gewalt oder emotionale Vernachlässigung –, führt uns zu einer differenzierten Betrachtung beider Formen.

2. Trauma durch das, was geschieht: Gewalt, Missbrauch, Misshandlung

Definition: Solche Erfahrungen sind typischerweise mit dem Konzept des „Schocktraumas“ verbunden – ein einmaliges oder wiederholtes, stark überwältigendes Erlebnis, das das Nervensystem überfordert.

Neurobiologische und psychologische Folgen:

  • Überaktivierung der Amygdala (Angstzentrum)
  • Dauerhafte Ausschüttung von Stresshormonen (z. B. Cortisol)
  • Veränderung der Gehirnstruktur (z. B. Hippocampus-Verkleinerung)

Folgestörungen:

  • PTBS, Dissoziation, Angststörungen, Impulskontrollstörungen

„Traumatische Erlebnisse können das Gehirn so verändern, dass es in einem permanenten Zustand der Alarmbereitschaft bleibt.“
– Bessel van der Kolk: Verkörperter Schrecken (2014)

3. Trauma durch das, was fehlt: Liebe, Annahme, Halt

Definition: Auch bekannt als „Entwicklungstrauma“ oder „Bindungstrauma“, geprägt durch chronischen Mangel an emotionaler Resonanz und sicherer Beziehung.

Zentrale Annahme: Nicht nur das Ereignis, sondern die Abwesenheit von Co-Regulation, Sicherheit und Spiegelung ist für das Nervensystem traumatisch.

„Ein Kind kann ohne sichere Bindung nicht lernen, sich selbst zu regulieren. Es bleibt emotional auf sich gestellt – das ist das eigentliche Trauma.“
– Dami Charf: Auch alte Wunden können heilen (2020)

Typische Symptome im Erwachsenenalter:

  • Geringes Selbstwertgefühl, chronische Selbstzweifel
  • Angst vor Nähe oder übermäßige Verschmelzungswünsche
  • Emotionale Leere, Überanpassung, Burnout

Besonderheit: Diese Symptome werden oft nicht als Trauma erkannt, da kein „sichtbares“ Ereignis vorliegt.

„Die Wunden, die durch das fehlen entstehen, sind tief und unsichtbar – und gerade deshalb so heimtückisch.“
– Gabor Maté: Wenn der Körper Nein sagt (2003)

4. Vergleich und Schlussfolgerung

Während Gewalt und Missbrauch schwerwiegende Schädigungen verursachen, ist das chronische emotionale Defizit oft ebenso zerstörerisch – nur subtiler. Es beeinflusst die Selbstwahrnehmung, Beziehungsgestaltung und Lebensfähigkeit grundlegend.

„Ein Kind, das Gewalt erfährt, weiß, dass etwas falsch läuft. Ein Kind, das keine Liebe erfährt, glaubt, dass es selbst falsch ist.“
– Laurence Heller: NARM – Neuroaffektives Beziehungsmodell (2012)

Teil 2: Warum ketaminassistierte Psychotherapie eine konkrete Hilfe bei Bindungs- und Entwicklungstrauma sein kann

1. Neurobiologische Grundlagen

Ketamin ist ein NMDA-Rezeptor-Antagonist, der in sehr niedriger Dosis neuroplastische Prozesse im Gehirn anstößt. Innerhalb weniger Stunden nach Verabreichung zeigen sich:

  • Zunahme von synaptischer Konnektivität im präfrontalen Kortex
  • Reduktion der Aktivität der Amygdala (weniger Angst)
  • Verbesserung der emotionalen Integration

„Ketamin kann innerhalb weniger Stunden neue neuronale Pfade öffnen – das ist wie ein Fenster der Heilung in ein ansonsten erstarrtes Nervensystem.“
– Robin Carhart-Harris et al., Neurobiology of Psychedelics (2021)

Zudem wirkt Ketamin im Gegensatz zu klassischen Antidepressiva nicht dämpfend, sondern lösungsfördernd.

2. Psychologische Wirkweise bei Entwicklungstrauma

Menschen mit Bindungstrauma haben oft:

  • Eingeschränkten Zugang zu Emotionen
  • Überlebensstrategien wie Dissoziation oder Funktionieren
  • Keine sichere „innere Bezugsperson“
    Hier kann Ketamin eine Brücke schlagen:

a) Entkoppelung vom inneren Kritiker:
Ketamin unterbricht das automatische Denken und öffnet den Zugang zu emotionalen Tiefenschichten. Klient:innen berichten von Momenten innerer Wärme, Mitgefühl mit dem inneren Kind und dem Erleben von Selbstannahme – oft zum ersten Mal.

b) Neue Bindungserfahrungen ermöglichen:
In der richtigen therapeutischen Beziehung kann unter Ketamin ein „korrektives Beziehungserlebnis“ stattfinden. In Verbindung mit einer achtsamen, präsenten Begleitung entsteht ein Raum, in dem sich emotionale Grundbedürfnisse nach Nähe, Sicherheit und Dazugehörigkeit nachnähren lassen.

„Ketamin erlaubt einen Zustand, in dem das alte Schutzsystem still wird – und das Nervensystem erstmals fühlt, dass es gehalten wird.“
– Raquel Bennett, KRIYA Institute, 2022

3. Praktische Anwendung

Ketamin-unterstützte Psychotherapie (KAP) wird meist folgendermaßen angewendet:

  • Niedrigdosiertes Ketamin (oral oder i.m.) als Vorbereitung auf emotionale Tiefe
  • Traumatherapeutisch geschulter Settingrahmen (z. B. NARM, SE, IFS)
  • Integration im Gespräch nach der Sitzung

Dabei gilt: Ketamin ist kein Ersatz, sondern ein Katalysator – es öffnet Räume, die ohne therapeutische Begleitung leicht retraumatisierend oder verwirrend sein können.

4. Fazit: Die Chance auf nachträgliche Entwicklung

Ketamin kann dem Gehirn helfen, sich selbst neu zu organisieren. Für Menschen, deren Kindheit nicht durch klare Gewalterlebnisse, sondern durch emotionale Leere geprägt war, eröffnet sich oft zum ersten Mal ein direkter Zugang zu sich selbst, zu Gefühlen – und zu einem inneren Ort von Sicherheit.

„Die psychedelische Erfahrung mit Ketamin erlaubt nicht nur das Erkennen der Wunde – sondern das Wiedererleben des Gefühls, jemals heil gewesen zu sein.“
– Bessel van der Kolk in einem Interview, MAPS-Konferenz 2023


Author

Achim Schwenkel

Praxisgründer, Psychedelic Coach, Publizist