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Krankheit als Symptom von Trauma – Eine verdrängte Wahrheit in Medizin und Psychologie

Krankheit als Symptom von Trauma – Eine verdrängte Wahrheit in Medizin und Psychologie

Einleitung: Die unbeachtete Wurzel des Leidens

Immer mehr Stimmen aus somatischen Therapierichtungen, der modernen Traumaforschung und ganzheitlichen Heiltraditionen behaupten, dass die überwiegende Mehrheit körperlicher und psychischer Krankheiten auf nicht verarbeitete Traumata zurückzuführen ist. Dies steht im scharfen Kontrast zur gängigen Praxis in der Schulmedizin und in großen Teilen der Psychologie, wo Symptome isoliert behandelt, chemische Ungleichgewichte oder genetische Prädispositionen in den Vordergrund gestellt und psychosomatische Zusammenhänge oft bagatellisiert werden. In diesem Artikel soll dieser Gegensatz beleuchtet, das Trauma-Paradigma erklärt und eine kritische Auseinandersetzung mit der institutionellen Blindheit gegenüber dieser Sichtweise geführt werden.

1. Was ist Trauma – und warum betrifft es (fast) jeden?

Trauma wird heute nicht mehr nur als Folge eines „großen“ Ereignisses wie Krieg, Missbrauch oder Katastrophen verstanden. Traumaforscher wie Gabor Maté, Peter Levine oder Bessel van der Kolk weisen darauf hin, dass Trauma ein Zustand des Nervensystems ist: eine dysregulierte Reaktion auf eine Überforderung, die das System nicht integrieren konnte.

Formen von Trauma:

  • Schocktrauma (plötzliche, überwältigende Ereignisse)
  • Entwicklungstrauma (anhaltender Mangel an sicherer Bindung, emotionaler Vernachlässigung, Kontrolle oder Abwertung in der Kindheit)
  • Transgenerationales Trauma (weitergegebene Traumata über Generationen hinweg)
  • Kollektive Traumata (Krieg, Kolonialismus, gesellschaftliche Gewalt)

Ein Kind, das emotional nicht gesehen wird, chronisch unter Druck steht oder lernen muss, seine Gefühle zu unterdrücken, weil es sonst Ablehnung erfährt, entwickelt genau jene inneren Anpassungsstrategien, die später als „Symptome“ in Psyche und Körper wieder auftauchen: Depression, chronische Schmerzen, Autoimmunerkrankungen, Ängste, Süchte, Persönlichkeitsstörungen.

2. Wie manifestiert sich Trauma im Körper?

Die moderne Psychoneuroimmunologie zeigt, dass frühkindliche Belastungen das Nervensystem langfristig dysregulieren. Übererregung (Hyperarousal), Erstarrung (Freeze) oder Dissoziation werden chronisch. Diese Zustände beeinflussen:

  • Das autonome Nervensystem: Ungleichgewicht zwischen Sympathikus (Stress) und Parasympathikus (Erholung)
  • Die Hormonproduktion: Überproduktion von Cortisol und Adrenalin
  • Das Immunsystem: Entzündungsreaktionen, Fehlfunktionen (Autoimmunerkrankungen)
  • Das Verhalten: Anfälligkeit für Angst, Sucht, Überarbeitung, Kontrollzwang

Viele chronische Krankheiten – Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, chronische Müdigkeit, Migräne, Herz-Kreislauf-Erkrankungen – sind in diesem Licht nicht „primär“ körperliche Leiden, sondern Ausdruck tiefer psychosomatischer Dysregulation infolge von Trauma.

3. Warum erkennt die Medizin dieses Paradigma kaum an?

a) Reduktionismus und Fragmentierung

Die westliche Medizin ist historisch vom kartesischen Dualismus geprägt: Körper und Geist gelten als getrennte Entitäten. Symptome werden lokalisiert und technisch behandelt, nicht als Ausdruck eines ganzheitlichen Ungleichgewichts verstanden. In diesem Modell bleibt kein Raum für seelische Ursachen von körperlichem Leid.

b) Wirtschaftliche Interessen

Die Pharmaindustrie profitiert von der Dauerverordnung symptomlindernder Medikamente. Ein tieferes Verständnis von Trauma würde bedeuten, langfristige, individuelle Prozesse zu fördern – etwa durch körperorientierte Psychotherapie – was weder lukrativ noch leicht zu standardisieren ist.

c) Mangelhafte Ausbildung

In der medizinischen und psychologischen Ausbildung spielt Trauma – besonders Entwicklungstrauma – kaum eine Rolle. Die neurobiologischen Zusammenhänge zwischen früher Kindheit, Bindung, Stressregulation und späterer Gesundheit werden nur rudimentär vermittelt.

d) Kulturelle Verdrängung

Ein Eingeständnis, dass die Mehrheit der Menschen an unverarbeiteten frühen Verletzungen leidet, rührt an ein kulturelles Tabu: Wir müssten uns mit der weit verbreiteten emotionalen Vernachlässigung in Familien, Schulen und Gesellschaft auseinandersetzen. Das ist unbequem – individuell wie institutionell.

4. Die Kehrseite: Missbrauch und Vereinfachung des Trauma-Paradigmas

Ein berechtigter Einwand ist, dass das Trauma-Paradigma selbst zur Ideologie verkommen kann, wenn es mechanistisch angewandt wird. Nicht jeder Mensch mit Krankheit hat zwingend ein verdrängtes Trauma – oder will sich dessen bewusst werden. Außerdem besteht die Gefahr, Verantwortung abzugeben („Ich bin krank, weil mir etwas passiert ist“) und in Passivität zu verfallen, statt proaktiv Heilung zu suchen.

Die Trauma-Theorie muss also differenziert angewandt werden – als Einladung zur Erforschung unbewusster Zusammenhänge, nicht als dogmatische Erklärung für alles.

5. Der Weg nach vorn: Eine neue Medizin der Ganzheit

Die Integration von Trauma-Verständnis in Medizin und Psychotherapie bedeutet nicht, dass Medikamente, Operationen oder klassische Therapien überflüssig werden. Aber sie müssen ergänzt werden durch:

  • Körperorientierte Verfahren: Somatic Experiencing, TRE, Atemarbeit
  • Bindungsbasierte Psychotherapie: Einbezug der frühkindlichen Beziehungsmuster
  • Traumasensible Pädagogik und Gesellschaftspolitik: Prävention statt Reparatur
  • Interdisziplinäre Ausbildung: Ärzte, Psychologen und Heilpraktiker lernen gemeinsam über Neurobiologie, Körper, Psyche und soziale Systeme

Fazit: Die Krankheit als Botschaft – und als Weg zur Heilung

Die weit verbreitete Verleugnung des Zusammenhangs zwischen Trauma und Krankheit ist ein Spiegel unserer Kultur: Wir vermeiden Schmerz, unterdrücken Gefühle und externalisieren Probleme. Doch Krankheit ist oft eine Einladung zur Rückverbindung – mit dem eigenen Körper, der eigenen Geschichte, der eigenen Wahrheit.

Erst wenn wir den Mut haben, Krankheit nicht nur zu bekämpfen, sondern als Ruf des verletzten Selbst zu verstehen, kann echte Heilung geschehen – individuell und kollektiv. Die Trauma-Theorie ist dabei kein Allheilmittel, aber ein entscheidender Schlüssel für ein neues, ganzheitliches Verständnis von Gesundheit.

Quellen und weiterführende Literatur:

  • Gabor Maté: Wenn der Körper Nein sagt
  • Bessel van der Kolk: Verkörperter Schrecken
  • Peter Levine: Sprache ohne Worte
  • Franz Ruppert: Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?
  • Stephen Porges: Die Polyvagal-Theorie
  • Thomas Hübl: Kollektives Trauma heilen
 

Author

Achim Schwenkel

Praxisgründer, Psychedelic Coach, Publizist