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Neue Wege im Umgang mit Lipödem: Trauma als Wurzel – und der Weg zu einer ganzheitlichen Therapie

Neue Wege im Umgang mit Lipödem: Trauma als Wurzel – und der Weg zu einer ganzheitlichen Therapie

Lipödem, lange Zeit primär als kosmetisches oder rein körperliches Problem behandelt, wird heute zunehmend als komplexes, systemisches Krankheitsbild erkannt. Typisch sind schmerzhafte Fettverteilungsstörungen an Beinen und Armen, die häufig mit Schweregefühl, Druckempfindlichkeit und einem Gefühl der Entfremdung vom eigenen Körper einhergehen. Betroffene erleben nicht nur physische Beschwerden, sondern auch massive psychische Belastungen: Scham, Isolation und das Gefühl, missverstanden zu werden – selbst von medizinischem Fachpersonal.

Während bisher operative Maßnahmen wie die Liposuktion im Zentrum der Behandlung standen, setzt sich zunehmend ein erweitertes Verständnis durch. Neue Ansätze begreifen Lipödem nicht nur als lokales Fettproblem, sondern als Ausdruck eines tieferliegenden Ungleichgewichts – körperlich, emotional und neurobiologisch. In diesem Artikel betrachten wir das Lipödem aus traumatherapeutischer Sicht und entwickeln daraus neue Wege für Prävention und Therapie.

Lipödem als körperlicher Ausdruck früher Traumatisierung

Gemini Generated Image yebmgqyebmgqyebmKliniker wie Bessel van der Kolk („The Body Keeps the Score“) und Gabor Maté („When the Body Says No“) zeigen eindrucksvoll: Der Körper speichert Erfahrungen – insbesondere solche, die in der Kindheit nicht verarbeitet werden konnten. Entwicklungs- und Bindungstraumata können zu chronischen Stresszuständen führen, in denen der Körper dauerhaft in Alarmbereitschaft bleibt. Das autonome Nervensystem ist dysreguliert, Immun- und Stoffwechselprozesse entgleisen, Entzündungsneigung und hormonelle Dysbalancen nehmen zu.

In diesem Licht kann Lipödem auch als somatische Reaktion auf chronisch unregulierten Stress gesehen werden – insbesondere bei Menschen, deren Bindungs- und Selbstwahrnehmungssystem in der Kindheit beschädigt wurde. Die chronische Überlastung des Systems manifestiert sich nicht selten im Gewebe: Fettzellen speichern Stresshormone, und Entzündungsprozesse werden chronisch.

Das erklärt, warum viele Betroffene schon früh an sich selbst zweifeln, Diäten scheitern und Sport keine Wirkung zeigt: Der Körper „hört nicht mehr“, weil die tieferliegende Stressmatrix unbehandelt bleibt.

Reicht eine Operation aus?

Die Liposuktion ist weiterhin als Standardtherapie gegen die ungewünschten Fettansammlung und deren Begleiterscheinungen unerlässlich. Sie kann neben der kosmetischen Verbesserung unter anderem Schmerzen lindern und Beweglichkeit verbessern – sie behandelt also wirksam die Auswirkungen und Nebenerscheinungen, nicht aber die Primärursachen. Ohne eine tiefgreifende Regulation des autonomen Nervensystems, ohne Entlastung der psychischen Stressmuster und ohne Aufarbeitung früher Traumata bleibt die Systemspannung und damit der Motor für die Grunderkrankung Lipödem erhalten. Der Körper findet dann andere Ausdrucksformen, im schlimmsten Fall kommen die Symptome zurück.

Daher ist eine multimodale, integrative Herangehensweise angezeigt, die somatische, psychische und soziale Aspekte vereint. Zentral ist der Gedanke: Heilung ist nicht nur Reduktion von Symptomen, sondern Wiederherstellung von Selbstregulation, Selbstkontakt und Lebensfreude.

Ganzheitliche Therapiebausteine

1. Kältetherapie (Kältekammer): Regulation über den Körper

Die kontrollierte Anwendung von Kälte (z. B. -110 °C für 2–3 Minuten) wirkt tief auf das autonome Nervensystem. Studien zeigen:

  • Reduktion von Entzündungsmarkern (z. B. TNF-α, IL-6)
  • Regulation von Sympathikus-Aktivität
  • Verbesserung von Schmerzverarbeitung und Körperwahrnehmung
  • Freisetzung von Endorphinen

In der Frühphase der Therapie kann die Kältekammer helfen, das Schmerzempfinden zu dämpfen und einen ersten Zugang zum Körpergefühl zu ermöglichen. In späteren Phasen unterstützt sie die neurovegetative Resilienz – ein wesentlicher Aspekt für nachhaltige Stabilisierung.

2. Ketamin-unterstützte Psychotherapie: Der Zugang zu abgespaltenen Anteilen

Ketamin, ursprünglich als Narkosemittel eingesetzt, wird zunehmend in der Traumatherapie verwendet. In niedriger Dosierung (subanästhetisch) wirkt es:

  • Dissoziativ und entkoppelnd: So können stark belastete Erinnerungen bearbeitet werden, ohne retraumatisiert zu werden.
  • Neuroplastisch: Es fördert synaptische Umstrukturierung und emotionale Verarbeitung.
  • Selbstregulierend: Viele Patient:innen berichten von nachhaltigen Verbesserungen ihrer Selbstwahrnehmung und Körperakzeptanz.

Im Kontext von Lipödem kann Ketamin helfen, den Zugang zu abgespaltenen Gefühlen – Scham, Wut, Hilflosigkeit – wiederherzustellen. Besonders bei Patientinnen mit starker innerer Abspaltung und Selbstablehnung ermöglicht Ketamin einen sicheren Raum zur Integration.

Ein idealer Ablauf:

  • Phase 1 (Stabilisierung): Körpertherapie, Ernährungsumstellung, Kälteanwendungen
  • Phase 2 (emotionale Verarbeitung): Ketamin-Sitzungen in Kombination mit tiefenpsychologisch orientierter Therapie
  • Phase 3 (Integration): Bewegung, Atemarbeit, kreative Therapien, soziales Eingebundensein

3. Ernährung, Bewegung & Körperarbeit

Ein trauma-informierter Zugang zur Ernährung bedeutet: kein Zwang, keine Kontrolle, sondern Rückverbindung mit Körpersignalen. Achtsames Essen, entzündungsarme Kost und individuelle Bewegungspläne (besonders im Wasser oder mit lymphatischem Fokus) stärken das Vertrauen in die eigene Körperweisheit.

Körperarbeit wie Somatic Experiencing, manuelle Lymphdrainage oder Myofaszialbehandlungen wirken dabei nicht nur mechanisch, sondern helfen dem Nervensystem, zwischen Spannung und Entspannung zu unterscheiden – etwas, das viele Betroffene nie gelernt haben.

Prophylaxe: Trauma erkennen, bevor der Körper schreit

Eine präventive Perspektive auf Lipödem bedeutet, frühzeitig die psychische Resilienz zu stärken. Dazu gehören:

  • Früherkennung von Bindungstraumata in Kindheit und Jugend
  • Schulung von Ärzt:innen in psychosomatischen Zusammenhängen
  • Zugang zu körperorientierter Psychotherapie
  • Entstigmatisierung von Körperdiversität
  • Räume für regulierende Erfahrungen (z. B. Natur, Musik, sichere Gruppen)

Langfristig geht es nicht nur darum, ein Fortschreiten des Lipödems zu verhindern, sondern auch den Körper wieder als Freund erleben zu können. Das ist nur möglich, wenn der Mensch sich in seiner Ganzheit gesehen und gehalten fühlt.

Fazit: Der Körper schreit, wo die Seele schweigt

Lipödem ist mehr als ein Problem des Fettgewebes. Es ist oft Ausdruck eines Nervensystems, das in der Kindheit keine Sicherheit finden konnte. Therapie darf daher nicht bei der Liposuktion enden. Erst die Kombination aus körperlicher Regulation (z. B. Kältekammer), psychischer Aufarbeitung (z. B. Ketamin-Therapie), achtsamer Ernährung, Bewegung und Traumaheilung ermöglicht nachhaltige Veränderung.

Dieser integrative Weg ist nicht nur heilender – er ist auch eine Würdigung der Komplexität und Würde jedes Menschen, der mit Lipödem lebt.


 
 
 
 
Quelle: Mein fachartikel zum gleichen Thema:
 

Lipödem neu denken: Traumafolgestörung, systemische Dysregulation und integrative Therapieansätze

Ein interdisziplinärer Blick auf eine wachsende Volkskrankheit

Laut aktuellen Schätzungen sind etwa 10 bis 15 % der Frauen in Mitteleuropa vom Lipödem betroffen – eine chronische, schmerzhafte Fettverteilungsstörung, die meist im Bereich der Beine und Arme auftritt. Die Erkrankung manifestiert sich oft in der Pubertät, nach Schwangerschaften oder in hormonellen Umstellungsphasen und wird häufig erst spät oder gar nicht diagnostiziert. Auffällig ist der massive Anstieg der Fallzahlen in den letzten Jahrzehnten. Während noch in den 1990er-Jahren Lipödem als selten galt, berichten heute viele Hausärzt:innen, Lympholog:innen und Phlebolog:innen von einem rapiden Anstieg an Diagnosen, zunehmender Frühmanifestation und deutlich jüngeren Patientinnen.

Was sind die Ursachen dieser Entwicklung? Handelt es sich lediglich um ein besseres Diagnosebewusstsein – oder spiegelt sich hier ein viel tiefer liegendes gesellschaftliches und biopsychosoziales Ungleichgewicht wider? Gibt es Zusammenhänge mit dem Anstieg chronischer Stressbelastungen, bindungstraumatischer Erfahrungen oder den körperlichen Folgen eines beschleunigten, regulativ überfordernden Lebensstils?

Immer mehr Fachleute vermuten: Das Lipödem könnte ein somatischer Ausdruck komplexer, unverarbeiteter psychophysiologischer Dysbalancen sein – vergleichbar mit funktionellen Schmerzsyndromen, chronischer Fatigue oder somatoformen Störungen.

Lipödem als Ausdruck von Entwicklungstrauma

Die Erkenntnisse aus der Psychotraumatologie, insbesondere durch Forschungen von Bessel van der Kolk, Stephen Porges und Gabor Maté, legen nahe: Körperliche Erkrankungen entstehen nicht selten als Folge frühkindlicher Traumatisierungen, chronischer emotionaler Vernachlässigung oder dauerhaftem Stresserleben.

Das autonome Nervensystem spielt dabei eine zentrale Rolle: Wenn früh keine sichere Co-Regulation durch Bindungspersonen erfolgt, bleibt das Nervensystem dysreguliert – mit langfristigen Folgen für Stoffwechsel, Immunfunktion und Hormonsystem. Lipödem könnte in diesem Sinne verstanden werden als Symptom einer unbewältigten Trauma-Lebensmatrix, die sich nicht primär psychisch, sondern über das Gewebe ausdrückt.

Dazu passen typische Merkmale bei Betroffenen:

  • Hohe emotionale Belastung trotz unauffälliger Laborwerte
  • Negative Körperwahrnehmung und Schamgefühle
  • Versagensempfinden trotz gesunder Ernährung und Bewegung
  • Chronische Übererregung oder Erschöpfung (Sympathikus-Dominanz oder Kollaps)

Warum eine rein operative Lösung nicht genügt

Die Liposuktion kann in vielen Fällen symptomlindernd wirken. Doch sie bleibt eine interventionelle Maßnahme ohne systemische Regulation. Viele Patientinnen berichten trotz erfolgreich durchgeführter Operation über persistierende Schmerzen, Unwohlsein und psychische Erschöpfung.

Ohne eine Neukalibrierung des neuroendokrinen und somatosensorischen Systems bleibt der zugrunde liegende Stress- und Trauma-Komplex bestehen – oft verschoben in neue Symptome oder psychovegetative Beschwerden.

Ein ganzheitliches Verständnis des Lipödems erfordert daher:

  • Die Integration psychotherapeutischer Verfahren, idealerweise körperorientiert und traumainformiert
  • Den gezielten Einsatz neurobiologisch wirksamer Methoden wie Kälteanwendungen oder Ketamintherapie
  • Einbindung von Ernährungsmedizin, Bewegungstherapie und Selbstwirksamkeitstraining

Integrative Therapieelemente: Bausteine eines neuen Behandlungspfades

1. Kälteanwendung – Vagusaktivierung und Entzündungshemmung

Die kontrollierte Ganzkörper-Kältetherapie (z. B. in Kryokammern bei -110 °C) hat sich in verschiedenen klinischen Kontexten bewährt:

  • Reduktion peripherer Entzündungsprozesse
  • Verbesserung der lymphatischen Mikrozirkulation
  • Vagus-Stimulation und vegetative Regulation
  • Stimmungsaufhellung durch Endorphinausschüttung

Gerade in der initialen Behandlungsphase kann die Kältekammer helfen, Schmerzsymptomatik zu reduzieren, das Körpergefühl zu verbessern und eine erste somatische Regulation herzustellen – ohne medikamentöse Nebenwirkungen.

2. Ketamin-unterstützte Psychotherapie – Zugang zum impliziten Trauma

Ketamin wirkt auf das glutamaterge System und moduliert NMDA-Rezeptoren. In subanästhetischen Dosen entfaltet es eine dissoziative, neuroplastische und emotional integrierende Wirkung. In der psychotherapeutischen Anwendung ergeben sich folgende Potenziale:

  • Bearbeitung tief verwurzelter Scham- und Abspaltungsanteile
  • Auflösung von "frozen states" (Erstarrung)
  • Integration präverbaler, non-kognitiver Traumaspuren
  • Erhöhung der Selbstakzeptanz und Körperverbundenheit

Besonders geeignet sind ketaminassistierte Settings in Kombination mit Somatic Experiencing oder IFS (Internal Family Systems), um abgespaltene Körperbereiche (z. B. Beine, Bauch) wieder in ein kohärentes Selbstbild zu integrieren.

3. Traumasensible Ernährung und Bewegung

Viele Lipödem-Patientinnen entwickeln restriktive oder zwanghafte Ernährungsmuster. Eine trauma-informierte Ernährungsmedizin zielt dagegen auf achtsame Ernährung, Reduktion entzündungsfördernder Komponenten (z. B. Transfette, Zucker), Stabilisierung des Mikrobioms und hormonelle Balance. Bewegung sollte nicht leistungsbezogen, sondern regulationsfördernd sein: Wassertherapie, Schwimmen, Yoga, myofasziale Dehnung, barfuß gehen.

4. Somatische Therapieformen und Körperarbeit

Behandlungen wie:

  • Lymphdrainage
  • Faszientherapie
  • Somatic Experiencing
  • Körperpsychotherapie

wirken doppelbödig: mechanisch auf das Gewebe, psychoregulatorisch auf das Nervensystem. Sie bieten Zugang zu oft unbewussten Spannungszuständen, die nicht durch Gespräche allein erreicht werden können.

Prophylaxe: Prävention beginnt im Nervensystem

Eine präventive Perspektive auf das Lipödem erfordert ein Umdenken in Medizin, Pädagogik und Gesellschaft:

  • Früherkennung von Regulationsstörungen und Bindungstraumata
  • Stärkung von Resilienz und Körperbewusstsein in Schulen und Familien
  • Integration körperorientierter Ansätze in Präventivprogramme
  • Stärkung von Selbstfürsorge, Stresskompetenz und psychosozialer Bildung

Gesundheit darf nicht länger nur als Abwesenheit von Symptomen verstanden werden, sondern als Fähigkeit zur Regulation, Bindung und Selbstverkörperung.

Fazit: Lipödem verstehen heißt Trauma verstehen

Das Lipödem ist kein rein mechanisches Fettverteilungsproblem. Es ist häufig Ausdruck einer systemischen, langjährigen Dysregulation, die Körper, Psyche und Umwelt gleichermaßen betrifft. Eine zukunftsfähige Therapie muss dieser Komplexität Rechnung tragen.

Operative Maßnahmen können hilfreich sein – aber nur, wenn sie Teil eines umfassenden, individualisierten Therapiekonzepts sind, das Trauma, Körperwahrnehmung und vegetative Regulation in den Mittelpunkt stellt. Der Einsatz von Kältekammern, ketaminunterstützter Psychotherapie und somatischen Ansätzen eröffnet hier neue Wege – weg von reiner Symptombekämpfung, hin zu echter Heilung.


Author

Achim Schwenkel

Praxisgründer, Psychedelic Coach, Publizist